Vorwort

David Gerlach & Bernd Tesch

Vorwort zur ersten Ausgabe der
Zeitschrift für Rekonstruktive Fremdsprachenforschung

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Das aktuelle Interesse an praxeologischer Forschung in der Fremdsprachendidaktik lässt aufhorchen. In Deutschland erfreut sich insbesondere die wissenssoziologisch-rekonstruktive Forschung mit der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2014, 2017) einer wachsenden Beliebtheit: Nach lediglich drei Dissertationen im Zeitraum 2004 bis 2014 unter Nutzung der Dokumentarischen Methode vervielfacht sich seit 2015 die Zahl der abgeschlossenen oder kurz vor dem Abschluss stehenden Dissertationen plötzlich. Der vor knapp zwanzig Jahren verkündete practice turn (vgl. Schatzki & Knorr Cetina 2001) in den Geistes- und Sozialwissenschaften scheint in der deutschen Fremdsprachenforschung angekommen zu sein. So führen beispielsweise auch die Handbücher von Caspari et al. (2016) sowie Doff (2012) die entsprechenden Erhebungs- und Analyseverfahren erstmals dezidiert auch als Instrumente der Disziplin auf, insbesondere die Dokumentarische Methode wird dann auch für die Fremdsprachenforschung methodologisch diskutiert und für bestimmte Gegenstände ins Spiel gebracht (vgl. z.B. Bonnet 2012, Tesch 2019). Der Blick praxeo­logischer Fremdsprachenforschung richtet sich dabei u.a. auf Praktiken der Verständigung von Lernenden und Lehrenden in Mikroprozessen und Handlungsroutinen bzw. Interaktionsprozessen des Fremdspra­chen­unterrichts, rekonstruiert aber auch Orientierungen hinsichtlich der Professionalität und Professio­nali­sierung von Fremdsprachenlehrkräften sowie lerner/innenbiografische Orientierungsmuster.

Dabei gibt es weiterhin zahlreiche offene Fragen: Was genau ist unter praxeologischer und rekonstruktiver Fremdsprachenforschung zu verstehen? Welche Rolle spielt innerhalb des praxeologischen Forschungs­paradigmas die Dokumentarische Methode? Welche anderen Ansätze der praxeologischen Theoriefamilie (z.B. konversationsanalytische, ethnografische, strukturtheoretische, objektiv-hermeneu­tische) werden an­gewandt? Wie wirkt sich das Spezifikum des Gebrauchs einer fremden Sprache auf die Verständigungspraktiken im Fremdsprachenunterricht aus und wie lassen sich diese rekonstruieren? Wie lassen sich die Phänomene kategorial und typologisch fassen? Welche Forschungsperspektiven eröffnen sich in diesem Kontext in der nahen Zukunft? Und welche Relevanz haben die Erkenntnisse einer praxeo­logischen Fremdsprachenforschung für die fach­bezogene Unterrichtsforschung, Methodik, Fachdidaktik und Lehrer/innenbildung?

Auf diese und andere Fragen möchte die Forschungsgemeinschaft Rekonstruktive Fremdsprachen­for­schung Antworten finden. Neben gemeinsamen Forschungsvorhaben – insbesondere auch im Hinblick auf Nachwuchsförderung – findet der Austausch einmal pro Jahr in einer Fachtagung sowie regelmäßigen Werkstatttreffen in kürzeren Abständen statt, bei der praxeologisch-rekonstruktiv orientierte Forschungs­projekte mit fremdsprachendidaktischem Bezug diskutiert und gewürdigt werden können. Ausgewählte Beiträge der Fachtagung werden in der Zeitschrift für Rekonstruktive Fremdsprachen­forschung (ZRFF) veröffentlicht, deren erster Band hiermit vorliegt. Der Band widmet sich in fünf Beiträgen den Grundlagen sowie ausgewählten methodisch-methodologischen Aspekten rekonstruktiver Fremdsprachenforschung.

Andreas Bonnet führt in seinem Beitrag „Die notwendige Zumutung der Komplexität und welche Früchte sie trägt“ in „Prinzipien, Gegenstände und ausgewählte Befunde Rekonstruktiver Fremdsprachenfor­schung“ ein. Rekonstruktive Verfahren ermöglichen den Zugang zu den Relevanzsystemen der Schüler*-innen und Lehrer*innen sowie zum Unterrichtsgeschehen als sozialer Praxis. In diesem Aufsatz werden die methodologischen und methodischen Grundlagen rekonstruktiver Forschung erläutert. Anschließend wird der Beitrag dieses Ansatzes für die Fremdsprachendidaktik sowohl systematisch als auch im Blick auf exemplarische Studien dargelegt sowie zukünftig zu klärende Fragen benannt – einerseits Fragen, die die rekonstruktive Fremdsprachenforschung aufklären muss, andererseits Fragen, die die rekonstruktive Fremdsprachenforschung in Bezug auf sich selbst zu klären hat.

Janina Vernal Schmidt und Matthias Grein gehen in ihrem Beitrag „Der Schülerjob im Fremdsprachenunterricht? Zu einer schulpädagogischen Metapher und deren Übertragung auf den Fremd­sprachenunterricht“ auf die aus der ethnografischen Unterrichtsforschung stammende Metapher des Schüler­jobs (Breidenstein 2006) ein. Am Beispiel der Daten zweier Forschungsprojekte zum Spanisch- und Französischunterricht diskutieren sie den sozialtheoretischen Rahmen sowie die Hauptcharakteristika des Befunds Schülerjob und zeigen Herausforderungen für die Fremdsprachendidaktik wie für die Schulpäda­gogik auf.

Andrea Daase und Stefanie Falkenstern beschäftigen sich in ihrem Artikel mit der „Produktivität rekonstruk­tiver Verfahren für die Zweitsprachenaneignungsforschung“. Sowohl die Soziokulturellen Theorien (SCT) als auch rekonstruktive Verfahren zeichnen sich durch einen Wechsel der Analyseperspektive vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ aus. Der Beitrag zeigt auf Basis von Daten aus einem abgeschlossenen sowie einem laufenden Promotionsprojekt, inwiefern die Erschließung von Sprachaneignungsprozessen mittels rekonstruktiver Verfahren (hier im Fokus: Narratives Interview und Gruppendiskussion) sowohl für die Weiterentwicklung der Zweitsprachaneignungsforschung wie auch der SCT produktiv sein kann.

Annika Kreft geht in „Herausforderungen bei der Fallgenerierung und (sinngenetischen) Typenbildung. Einblicke und Reflexionen auf der Basis einer videobasierten Unterrichtsstudie im Fach Englisch“ auf zwei zentrale Schritte innerhalb der dokumentarischen Unterrichtsforschung ein. In der Dokumentarischen Videographienanalyse, so ihr Befund, ist eine Adaption bei der Fallgenerierung und der sinngenetischen Typenbildung notwendig. Ein Beispiel hierfür bildet die Rekonstruktion komplexer Unterrichts­inter­aktionen, deren Vorgehensweise am Beispiel einer videobasierten Untersuchung zum Umgang mit fictions of migration im Englischunterricht illustriert wird.

Bernd Tesch, Damian Vernaci und Lisa Ströbel gehen in ihrem Beitrag zur Methodendiskussion der Dokumentarischen Unterrichtsvideographieanalyse auf die theoretischen Grundlagen videoanalytischer Auswahlprozesse bei der Arbeit mit der Dokumentarischen Fremdsprachenforschung ein und beleuchten an einem ausgewählten Beispiel das komplexe Zusammenspiel verschiedener Analysefoci im Forschungs­prozess. Die ,Auswahl‘ bzw. die damit verbundenen ,Entscheidungen‘ werden dabei auf praxeo­logisch-wissenssoziologischer Grundlage auch als reflexive Praktiken Forschender adressiert.

Literatur

Bohnsack, R. (92014): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Stuttgart: UTB.

Bohnsack, R. (2017): Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen & Toronto: Barbara Budrich.

Bonnet, A. (2012): Von der Rekonstruktion zur Integration – Wissenssoziologie und Dokumentarische Methode in der Fremdsprachenforschung. In: Doff, Sabine (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht empirisch beforschen. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Tübingen: Narr. 286-305.

Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: Springer VS.

Caspari, D., Klippel, F., Legutke, M., Schramm, K. (Hrsg.) (2016): Forschungsmethoden in der Fremd­sprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr.

Doff, S. (Hrsg.) (2012): Fremdsprachenunterricht empirisch beforschen. Grundlagen, Methoden, Anwen­dungen. Tübingen: Narr.

Schatzki, T. R. & Knorr Centina, K. & von Savigny, E. (Hrsg.) (2001): The Practice Turn in Contemporary Theory. London, New York: Routledge.

Tesch, B. (2019): Sinnkonstruktionen im Fremdsprachenunterricht. Einführung in die Rekonstruktive Fremd­sprachenforschung mit der Dokumentarischen Methode. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Autorenangaben

David Gerlach, Dr. phil. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der AG Fremdsprachenforschung der Philipps-Universität Marburg
Schwerpunkte: fremdsprachendidaktische Professionsforschung, inklusiver Fremdsprachenunterricht, Lernschwierigkeiten und Fremdsprachenlernen

Bernd Tesch, Prof. Dr., Professur für Romanistische Fachdidaktik Universität Tübingen
Schwerpunkte: Grundlagentheorie zur rekonstruktiven Fremdsprachenforschung (Dokumentarische Me­thode), Theorie des fremdsprachlichen Klassenzimmers, Kompetenzorientierung, Textkomplexität & Textkompertenz